Brasilien schafft Fake News ab!
- Maximilian Handl

- 15. Okt.
- 3 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 16. Okt.
Schluss mit „Fake News“: In Brasilien wollen Factchecker den Begriff hinter sich lassen. Wie das Land, das einst eigene Anti-Fakenews-Behörden brauchte, damit umgeht, liest du hier.

Comprova, das größte journalistische Netzwerk zur Überprüfung viraler Inhalte in Brasilien, verzichtet künftig auf Etiketten wie „falsch“, „irreführend“ oder „bewiesen“. Der Grund: Diese Kennzeichnungen hätten sich als Barriere erwiesen – sie hielten Menschen davon ab, sich überhaupt mit den Fakten auseinanderzusetzen.
José Antonio Lima, stellvertretender Redakteur bei Comprova, erklärt in der LatAm Journalism Review (eine Online-Zeitschrift des Knight Center for Journalism in the Americas, die sich mit Pressefreiheit und Medien in Lateinamerika befasst):
„Wir haben festgestellt, dass eine einfache Widerlegung nicht ausreicht. Faktenchecks müssen nicht nur die Belege und Behauptungen eines viralen Posts prüfen, sondern auch untersuchen, wer diese Inhalte erstellt, welche Interessen dahinterstehen und welche Taktiken genutzt werden, um Menschen zu überzeugen.“
INFO: WER ODER WAS IST COMPROVA?
Gründung: 2018
Sitz: São Paulo, Brasilien
Träger: Zusammenschluss von über 40 Redaktionen, darunter Folha de S.Paulo, O Estado de S. Paulo, UOL, BandNews, AFP Brasil und weitere.
Koordination: Von Abraji (Associação Brasileira de Jornalismo Investigativo) und Projor – unterstützt von der First Draft Coalition und der Google News Initiative.
Ziel: Gemeinsame Überprüfung viraler Inhalte in sozialen Netzwerken, vor allem während Wahlkämpfen.
Besonderheit: Comprova veröffentlicht keine eigenen Meinungen oder Bewertungen, sondern analysiert Ursprung, Verbreitung und Wirkung von Informationen.
Die Entscheidung sei nach einer viermonatigen Testphase gefallen. Man habe gemerkt, dass der Begriff „falsch“ bei vielen Leser:innen sofort Abwehrreaktionen auslöse.
„Diese Begriffe bewirken, dass Menschen Inhalte ablehnen, die ihrer eigenen Weltsicht widersprechen, wirkten letztlich wie ein Hindernis zwischen uns und dem Publikum...“
Comprova will künftig stattdessen auf Kontext, Motivation und Verbreitungsmechanismen eingehen – also darauf, warum und wie Desinformation entsteht.
Vom Faktencheck zur Kontextanalyse
Der Schritt ist mehr als ein sprachliches Detail. Er bedeutet einen Paradigmenwechsel: Weg von der binären Logik „wahr oder falsch“, hin zu einer erklärenden Perspektive, die Zusammenhänge sichtbar macht.
Lima betont, dass viele Falschinformationen erfolgreich seien, weil sie emotional oder identitär wirken – nicht, weil sie überzeugende Fakten enthalten.
„Wir wollen verstehen, warum Menschen auf bestimmte Botschaften reagieren und welche Bedingungen Desinformation begünstigen. "Nur so lässt sich das Problem wirklich angehen.“
Die Redaktion will künftig nicht mehr nur Inhalte prüfen, sondern auch untersuchen, welche Gruppen oder Akteure hinter der Verbreitung stehen.
Ein Land im Dauerstreit um Wahrheit
In Brasilien hat der Begriff „Fake News“ längst eine politische Schlagseite. Während der Präsidentschaftswahlen 2018 und 2022 wurden ganze Kampagnen über WhatsApp, YouTube und Telegram geführt, in denen Falschmeldungen massenhaft verbreitet wurden.
Der Oberste Wahlgerichtshof (TSE) richtete zeitweise eigene Taskforces gegen Desinformation ein, ließ Posts löschen und arbeitete mit Plattformen zusammen. Diese Eingriffe riefen wiederum Kritiker auf den Plan, die vor Zensur warnten.
Wie das Wilson Center analysierte, war Brasilien eines der ersten Länder, das „eigene Anti-Fake-News-Behörden einrichtete, um die demokratische Stabilität während der Wahlen zu sichern – mit gemischtem Erfolg“.
Die übermäßige politische Aufladung des Begriffs habe dazu geführt, dass „Fake News“ selbst zum Schlagwort im Meinungskampf geworden sei, schreibt die Zeitung, Americas Quarterly:
„Der Ausdruck wird inzwischen so oft von allen Seiten verwendet, dass er kaum noch etwas beschreibt – außer Misstrauen.“
Chancen und Risiken des neuen Ansatzes
Der Verzicht auf klare Labels bringt neue Möglichkeiten, aber auch Herausforderungen:
Chancen:
– Weniger Polarisierung: Menschen könnten offener auf Faktenchecks reagieren. – Tieferes Verständnis: Statt einer schnellen Bewertung wird die Logik hinter der Desinformation sichtbar.
– Präventiver Effekt: Kontextualisierung kann verhindern, dass Falschinformationen später erneut zirkulieren.
Risiken:
– Unklarheit: Leser:innen könnten vermissen, dass ein Inhalt eindeutig als falsch markiert wird.
– Vertrauensfrage: Ohne Label hängt mehr von der Erklärungskompetenz des Mediums ab.
– Politisches Risiko: Gegner könnten behaupten, die Initiative wolle sich „weichspülen“.
Comprova wagt einen mutigen Schritt: den Versuch, Desinformation nicht länger mit dem Begriff „Fake News“ zu bekämpfen, sondern mit Analyse und Kontext.
In einem Land, das in den vergangenen Jahren an den Grenzen zwischen Meinung, Manipulation und Macht geriet, markiert dieser Schritt mehr als eine sprachliche Wende. Er ist Ausdruck eines neuen Verständnisses journalistischer Verantwortung – und eines vorsichtigen Optimismus, dass Aufklärung auch ohne Etikett wirken kann.
QUELLEN & KI
Brazilian fact-checker eliminates “false” and “misleading” labels in shifting strategy against misinformation. LatAm Journalism Review, 2024. https://latamjournalismreview.org/articles/brazilian-fact-checker-eliminates-false-and-misleading-labels-in-shifting-strategy-against-misinformation
Comprova elimina etiquetas “falso” e “enganoso” em mudança de estratégia contra desinformação. LatAm Journalism Review (portugiesische Originalversion), 2024. https://latamjournalismreview.org/pt-br/articles/comprova-elimina-etiquetas-falso-e-enganoso-em-mudanca-de-estrategia-contra-desinformacao
Inside Brazil’s Dangerous Battle Over Fake News. Americas Quarterly, 2023. https://americasquarterly.org/article/inside-brazils-dangerous-battle-over-fake-news
Brazil Fell for Fake News: What to Do About It Now? Wilson Center, 2022. https://www.wilsoncenter.org/blog-post/brazil-fell-for-fake-news-what-to-do-about-it-now
Projeto Comprova (Wikipedia-Eintrag, zuletzt abgerufen 2025). https://en.wikipedia.org/wiki/Projeto_Comprova
An Evaluation of the Impact of a Collaborative Journalism Project on Brazilian Journalists and Audiences https://firstdraftnews.org/wp-content/uploads/2019/06/Comprova-Full-Report-Final.pdf?x21167=&utm_
In diesem Bericht wurde KI für Übersetzung und Quellenrecherche genutzt.
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